Wie ich eine Seite lese

  1. These: Ich lese Webseiten nicht wie andere Menschen. Ich lese sie wie ein Psychogramm.
Nicht, was sie sagen, interessiert mich zuerst – sondern was sie versuchen, zu sagen.Ich sehe Call-to-Actions wie Handbewegungen: ein ausgestreckter Arm, mal bittend, mal drohend.

Ich höre Unterüberschriften wie Tonlagen, fühle, wo jemand überzeugen will – und wo er nur Angst hat, nicht gehört zu werden.

Manchmal erkennt man in einer Landingpage mehr über ein Unternehmen als in jedem Presseinterview. Weil dort die nackte Psychologie steht, verpackt in Conversion-Rhetorik.


Das Muster

Fast jede gute Seite folgt demselben Erzählalgorithmus:

  • ProblemLösungBeweisVertrauenAktion.

Das ist kein Geheimnis. Es ist Dramaturgie.

Der gleiche Aufbau, den Aristoteles für Tragödien beschrieben hat, nur mit einem anderen Endgegner: dem Absprung zur Konkurrenz.

Aber was mich interessiert, ist das Dazwischen: die Mikropausen, die verschwiegenen Übergänge, die emotionale Logik. Der Moment, in dem eine Marke von „wir helfen dir“ zu „bitte kauf“ kippt. Dort sitzt der wahre Text.


Die Psychologie dahinter

Jede Seite spricht drei Sprachen:

  1. die offizielle („Wir sind Marktführer“),
  2. die emotionale („Hab uns bitte lieb“),
  3. und die implizite („Wir wissen nicht, ob du uns glaubst“).

Diese drei Ebenen sind selten synchron. Und genau das ist der Grund, warum Seiten selten ehrlich klingen.

Die Corporate Voice sagt Sicherheit, der CTA schreit Angst, und das Design flüstert Überforderung.

Ich lese das wie einen Code: nicht in HTML, sondern in Haltung.

Der CTA als emotionales Symptom

Ein guter CTA ist kein Knopf. Er ist ein Bekenntnis.

„Kontakt aufnehmen“ kann nach Selbstbewusstsein klingen – oder nach Verzweiflung.

„Jetzt starten“ kann nach Mut riechen – oder nach Panik.

Man spürt, ob ein Unternehmen Vertrauen hat, weil seine Aufforderungen nicht laut werden müssen. Und man erkennt Unsicherheit daran, dass alles „jetzt“ passieren soll. Wie jemand, der Angst hat, dass man gleich wieder geht.


Was mich wirklich interessiert

Ich lese Seiten, um zu verstehen, wie Menschen über Menschen denken.

  • Eine Produktseite erzählt mir, wie sehr eine Firma an Rationalität glaubt.
  • Eine Teamseite zeigt mir, wie sie Hierarchien versteht.
  • Ein Footer verrät mir, ob sie an Ordnung glaubt oder an Kontrolle.

Ich lese den Text, und dann lese ich das Dahinter: die Psychologie der Prioritäten, den Rhythmus der Angst, den Versuch, aus Unsicherheit Design zu machen.


Und am Ende

Jede Webseite ist ein Gespräch zwischen zwei Unbekannten: jemand, der überzeugen will, und jemand, der nicht überzeugt werden möchte. Ich lese, um zu sehen, ob zwischen diesen beiden überhaupt noch Platz ist für Wahrheit.

Und manchmal, ganz selten, finde ich eine Seite, die nicht versucht, mich zu führen, sondern einfach sagt:

„Hier sind wir. Und wenn du bleibst, schön.“

Dann weiß ich: Jemand hat den Algorithmus verstanden – und ihn vergessen, als es wichtig wurde.